Ostfriesland (ostfriesisches Plattdeutsch: Oostfreesland, Ostfreesland), im äußersten Nordwesten Niedersachsens gelegen, umfasst die Landkreise Aurich, Leer, Wittmund und die kreisfreie Stadt Emden sowie die Ostfriesischen Inseln. Auf 3144,26 km² leben rund 475.587 Menschen (Stand 2023), womit die Region dünner besiedelt ist als der Bundesdurchschnitt. Ostfriesland zeichnet sich durch eine dezentrale Struktur mit Mittel- und Kleinstädten sowie zahlreichen Dörfern aus.
Historisch geprägt durch Landwirtschaft, Fischerei und Seehandel, hat sich die Region dank Deichbau und Melioration entwickelt. Heute spielen Tourismus und Industrie eine wichtige Rolle, wobei die Landwirtschaft weiterhin bedeutend bleibt. Trotz wirtschaftlicher Fortschritte gilt Ostfriesland als strukturschwach mit Abhängigkeit von wenigen Branchen.
Die geographische Isolation durch Moore und die Orientierung zur Nordsee führten zu einer eigenständigen kulturellen Entwicklung, einschließlich enger Verbindungen zu den Niederlanden. Ostfriesland ist ein Zentrum der plattdeutschen Sprache, die von etwa der Hälfte der Einwohner gesprochen wird. Institutionelle Eigenständigkeit und die Förderung regionaler Identität bleiben wichtige Anliegen der Region.
Geografie
Lage und Gebiet
Ostfriesland liegt an der Nordseeküste und stellt die nordwestlichste Region Deutschlands dar. Der Begriff „Ostfriesland“ wird sowohl im historisch-politischen als auch im geografischen Sinne genutzt. Historisch-politisch umfasst Ostfriesland die kreisfreie Stadt Emden sowie die Landkreise Aurich, Leer und Wittmund. Diese Region entspricht weitgehend dem ehemaligen Fürstentum Ostfriesland (1464–1744) und dem späteren Regierungsbezirk Aurich, der bis 1978 existierte. Im erweiterten geografischen Sinn werden auch angrenzende Gebiete miteinbezogen.
Das „Ost“ in Ostfriesland verweist auf die Lage im östlichen Teil des historischen Frieslandes, im Gegensatz zu Westfriesland in den Niederlanden. Neben Ost- und Westfriesland gibt es Nordfriesland in Schleswig-Holstein, das jedoch nicht zum historischen Friesland des Heiligen Römischen Reiches gehörte. Ostfriesland grenzt im Osten an die Landkreise Friesland, Ammerland und Cloppenburg, im Süden an den Landkreis Emsland, im Westen an die Niederlande und im Norden an die Nordsee.
Dem Festland sind die Ostfriesischen Inseln vorgelagert. Sieben dieser Inseln sind bewohnt: Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge. Wangerooge (samt Minsener Oog = künstlich aufgespült) zählen jedoch nicht zum historischen Ostfriesland, sondern zum oldenburgischen Teil der Region. Diese geografische Unterscheidung spiegelt sich in der sprachlichen Betonung wider: „Ostfriesland“ (Betonung auf der zweiten Silbe) beschreibt das historische Gebiet, während „Ost-Friesland“ (Betonung auf der ersten Silbe) eine weiter gefasste Region meint.
Die Ostfriesen identifizieren sich stark mit der friesischen Kultur, einer gemeinschaftlichen Identität entlang der Nordseeküste in Deutschland und den Niederlanden. Diese kulturelle Verbundenheit zeigt sich in Sprache, Traditionen und dem Bestreben, ihre Eigenheiten gegenüber angrenzenden Regionen zu bewahren.
Landschaftsformen
Die Landschaft Ostfrieslands ist von Marschland, Mooren und Geest geprägt. Dem Festland vorgelagert ist die Kette der Ostfriesischen Inseln, die sich über etwa 90 Kilometer von der Emsmündung bis zum Jadebusen erstreckt. Diese Inseln sind geologisch junge Gebilde aus Strand- und Dünenwällen und Teil des weltweit bedeutenden Wattenmeers, das seit 2009 als UNESCO-Weltnaturerbe ausgezeichnet ist. Das Watt und die Inseln bilden ein dynamisches ökologisches System, das von Gezeiten geprägt wird. Der Wechsel zwischen Ebbe und Flut schafft einzigartige Lebensräume für Flora und Fauna.
Salzwiesen, Primärdünen und Marschland kennzeichnen die natürlichen Übergänge zwischen Meer und Land. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Bewohner Ostfrieslands durch Deichbau und Landgewinnung die Küstenlinie verändert. Ohne Deiche wären weite Teile der Region regelmäßig von den Fluten der Nordsee überschwemmt. Der steigende Meeresspiegel und der Klimawandel erfordern jedoch immer neue Küstenschutzmaßnahmen.
Neben den Marschen und Mooren gibt es auch Hochmoorreste wie das Ewige Meer, den größten Hochmoorsee Deutschlands. Die Geestlandschaft zeichnet sich durch sandige Böden und Wallhecken aus, die als traditionelle Landschaftselemente kleine Parzellen einfassen. Größere Flächen werden landwirtschaftlich genutzt. Im Landesinneren befinden sich auch Wälder wie der Heseler Wald und der Ihlower Forst, die in der sonst offenen Landschaft eine wichtige Rolle spielen.
Gewässer
Ostfriesland ist von einem dichten Netz aus Flüssen, Kanälen und Tiefs (Entwässerungsgräben) durchzogen. Der bedeutendste Fluss ist die Ems, die bei Emden in die Nordsee mündet. Weitere Flüsse sind die Leda, ihr Nebenfluss Jümme und die Harle. Die Region verfügt über zahlreiche Kanäle wie den Ems-Jade-Kanal, der bedeutendste Wasserlauf für den Transport und die Entwässerung. Viele kleinere Gewässer, darunter Fehnkanäle und Tiefs, dienen der Entwässerung des tiefliegenden Landes und sind teils auch für Freizeitaktivitäten wie Bootfahren oder Angeln beliebt.
Die natürlichen und künstlichen Gewässer haben nicht nur ökonomische Bedeutung, sondern sind auch ökologische Hotspots. Sie bieten Lebensraum für zahlreiche Fischarten wie Aal, Hecht und Zander sowie für Wasserpflanzen und Insekten.
Flora und Fauna
Ostfrieslands Flora und Fauna sind durch die Vielfalt der Lebensräume geprägt. Auf den Inseln dominieren Strandhafer und Sanddorn, während im Watt spezielle Pflanzen wie der Queller gedeihen. Seehunde und Kegelrobben sind typische Meeressäuger, während Millionen von Zugvögeln das Wattenmeer als Rastplatz nutzen. Das Binnenland ist weniger artenreich, bietet jedoch Lebensraum für Kleintiere wie Hasen, Maulwürfe und verschiedene Vogelarten. Besonders die Wallhecken der Geestlandschaft stellen wichtige Biotope dar. In den Hochmooren finden sich spezialisierte Arten wie das Birkhuhn sowie Reptilien wie die Kreuzotter.
Das Wattenmeer ist eines der wichtigsten Ökosysteme Europas und dient als Nahrungs- und Brutgebiet für zahlreiche Vogelarten. Auf den Inseln sind Kaninchen und Igel verbreitet, während das Binnenland unter anderem Fischarten wie Karpfen und Barsch beherbergt. Die hohe Biodiversität trägt wesentlich zur Attraktivität der Region für Naturliebhaber bei.
Klima
Das Klima Ostfrieslands ist warmgemäßigt und wird stark von der Nordsee beeinflusst. Die Sommer sind mild, die Winter feucht und selten extrem kalt. Die Jahresmitteltemperatur liegt bei etwa 8,5 °C bis 9 °C, während der Niederschlag im Durchschnitt 800 mm pro Jahr beträgt. Wind und Sturm sind häufig, insbesondere im Winterhalbjahr, was auch die Gefahr von Sturmfluten erhöht. Das Reizklima mit salzhaltiger Luft und einer erhöhten Sonnenscheindauer auf den Inseln wird als gesundheitsfördernd angesehen.
Durch die konstante Meeresbrise sind die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sowie Sommer und Winter gering. Dies macht die Region auch für landwirtschaftliche Nutzungen attraktiv, da extreme Wetterbedingungen selten sind. Die Windhäufigkeit wird zunehmend für die Erzeugung von Windenergie genutzt, ein wachsender Wirtschaftszweig in Ostfriesland.
Städte und Gemeinden
Die Städte und Gemeinden (Samtgemeinden) Ostfrieslands sind nicht nur geprägt von ihrer kulturellen Vielfalt, sondern auch von ihrer engen Verbindung zur Nordsee und ihren maritimen Wurzeln.
Vom geschäftigen Emden mit seinem bedeutenden Hafen über das historische Leer, das oft als „Tor Ostfrieslands“ bezeichnet wird, bis hin zu malerischen Küstenorten wie Greetsiel oder den autofreien ostfriesischen Inseln – jede Gemeinde erzählt ihre eigene Geschichte.
Kreisfreie Stadt Emden
- Emden: Die einzige kreisfreie Stadt in Ostfriesland mit etwa 50.000 Einwohnern. Emden ist bekannt für seinen Seehafen, die Kunsthalle Emden und die historische Altstadt.
Landkreis Aurich
Der Landkreis Aurich ist der bevölkerungsreichste Landkreis Ostfrieslands und umfasst folgende Einheiten:
- Städte
- Aurich: Die Kreisstadt mit etwa 42.000 Einwohnern, bekannt für das historische Schloss und das MachMitMuseum.
- Norden: Eine Küstenstadt mit rund 25.000 Einwohnern, bekannt für den Ostfriesischen Teemarkt und das Wattenmeer.
- Wiesmoor: Auch als „Blumenstadt“ bekannt, mit rund 14.000 Einwohnern.
- Norderney (Insel): Eine der ostfriesischen Inseln, vor allem für Tourismus, Strände und das Nordseeheilbad bekannt.
- Juist (Insel): Eine autofreie Insel, oft als „Töwerland“ (Zauberland) bezeichnet, mit etwa 1.700 Einwohnern.
- Einheitsgemeinden
- Großefehn: Eine Fehnsiedlung mit rund 13.000 Einwohnern, geprägt von Kanälen und Klappbrücken.
- Ihlow: Rund 12.000 Einwohner; bekannt für die Klosterstätte Ihlow und die umliegende Natur.
- Südbrookmerland: Heimat von etwa 19.000 Einwohnern, umfasst mehrere Dörfer wie Moordorf und Victorbur.
- Hinte: Eine Gemeinde mit rund 7.000 Einwohnern, berühmt für das Wasserschloss Hinta.
- Krummhörn: Eine ländliche Gemeinde mit rund 13.000 Einwohnern; hier liegt das bekannte Fischerdorf Greetsiel.
- Dornum: Ein Luftkurort mit etwa 5.000 Einwohnern, inklusive der Küstenorte Dornumersiel und Neßmersiel.
- Samtgemeinden
- Brookmerland, Samtgemeinde
- Marienhafe (Verwaltungssitz)
- Leezdorf
- Osteel
- Rechtsupweg
- Upgant-Schott
- Wirdum
- Hage, Samtgemeinde
- Hage (Verwaltungssitz)
- Berumbur
- Hagermarsch
- Halbemond
- Lütetsburg
- Brookmerland, Samtgemeinde
Landkreis Leer
Der Landkreis Leer ist geprägt von Kanälen, der Ems und vielen malerischen Ortschaften.
- Städte
- Leer: Die Kreisstadt Leer mit rund 35.000 Einwohnern, bekannt als „Tor Ostfrieslands“ und für ihre historische Altstadt.
- Weener: Eine Kleinstadt mit etwa 16.000 Einwohnern, Heimat des Organeum und eines Hafens an der Ems.
- Borkum (Insel): Eine Inselstadt mit rund 5.000 Einwohnern, die größte und westlichste der Ostfriesischen Inseln.
- Einheitsgemeinden
- Moormerland: Rund 23.000 Einwohner; bekannt durch die Fehnkultur und das Naturschutzgebiet Ewiges Meer.
- Westoverledingen: Etwa 21.000 Einwohner, eine ländlich geprägte Gemeinde.
- Rhauderfehn: Rund 18.000 Einwohner, geprägt von den typischen Fehnsiedlungen.
- Ostrhauderfehn: Mit rund 11.000 Einwohnern, ebenfalls eine Fehnsiedlung.
- Uplengen: Etwa 11.000 Einwohner; ländliche Umgebung mit vielen Wander- und Radwegen.
- Bunde: Eine Gemeinde mit rund 8.000 Einwohnern, nahe der niederländischen Grenze.
- Jemgum: Eine kleinere Gemeinde mit rund 3.000 Einwohnern; besonders bekannt für das Rheiderland.
- Samtgemeinden
- Hesel, Samtgemeinde
- Hesel (Verwaltungssitz)
- Brinkum
- Firrel
- Holtland
- Neukamperfehn
- Schwerinsdorf
- Jümme, Samtgemeinde
- Detern
- Filsum
- Nortmoor
- Hesel, Samtgemeinde
Landkreis Wittmund
Der kleinste Landkreis Ostfrieslands, geprägt von Küste, Inseln und ländlichen Dörfern.
- Städte
- Wittmund: Die Kreisstadt mit etwa 21.000 Einwohnern, bekannt für das Museum „Alte Schmiede“.
- Esens: Eine Kleinstadt mit rund 7.000 Einwohnern, oft als „Stadt der Bären“ bezeichnet mit dem Stadtteil Bensersiel.
- Einheitsgemeinden
- Friedeburg: Mit rund 10.000 Einwohnern; ein Luftkurort und bekannt für das Fehngebiet.
- Samtgemeinden
- Esens, Samtgemeinde
- Esens (Verwaltungssitz)
- Dunum
- Holtgast
- Moorweg
- Neuharlingersiel
- Stedesdorf
- Werdum
- Holtriem, Samtgemeinde
- Westerholt (Verwaltungssitz)
- Blomberg
- Eversmeer
- Nenndorf
- Neuschoo
- Ochtersum
- Schweindorf
- Utarp
- Inselgemeinden
- Langeoog (Drittgrößte autofreie Ostfriesische Insel)
- Spiekeroog (Östlichste Insel Ostfrieslands)
- Esens, Samtgemeinde
Einwohner
In Ostfriesland leben etwa 465.000 Menschen, was einer Bevölkerungsdichte von 148 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht. Die größten Städte sind Emden, Aurich, Leer, Norden (Norddeich) und Wittmund. Historisch hat die Region eine überdurchschnittliche Geburtenrate, jedoch reicht diese nicht aus, um den Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung und Überalterung auszugleichen. Der Ausländeranteil liegt unter dem Bundesdurchschnitt, wobei ein erheblicher Teil der Zuwanderer aus den Niederlanden stammt.
Die Bevölkerung zeichnet sich durch eine enge Verbundenheit mit ihrer Heimat aus, was sich in der Pflege von Traditionen und regionalen Eigenheiten zeigt. Zuwanderer, insbesondere Senioren, die ihren Ruhestand in der Region verbringen, tragen zur sozialen Struktur bei. Trotz der Überalterung gibt es Bemühungen, junge Familien durch verbesserte Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten anzuziehen.
Geschichte Ostfrieslands
Ur- und Frühgeschichte
Die Geschichte Ostfrieslands reicht bis in die frühesten Anfänge menschlicher Besiedlung zurück. Bereits Rentierjäger der Hamburger Kultur hinterließen im Jungpaläolithikum Spuren. Mesolithische und später neolithische Kulturen wie die Trichterbecher-, Schnurkeramik- und Glockenbecherkultur folgten. Bedeutende archäologische Funde belegen diese Epochen, darunter der Bohlenweg im Meerhusener Moor (ca. 2500 v. Chr.) und der Pflug von Walle, dessen Entstehung auf etwa 1000 v. Chr. geschätzt wird. Menschliche Kieferknochen, die 2016 und 2018 auf Spiekeroog und Baltrum entdeckt wurden, zählen zu den ältesten menschlichen Überresten der Region.
In der römischen Kaiserzeit siedelten germanische Chauken und später Friesen in der Region. Ab etwa der Zeitenwende begann die langsame Verdrängung der Chauken durch die Friesen. Von römischer Seite belegen Berichte über Feldzüge unter Drusus und Germanicus sowie Funde bei Bentumersiel eine römische Präsenz.
Völkerwanderung und Mittelalter
Im 5. Jahrhundert kam es zu einem Bevölkerungsrückgang, ausgelöst durch den Anstieg des Meeresspiegels und die Vernässung der Geest. Viele Bewohner wanderten mit den Angelsachsen nach England aus. Erst im 7. und 8. Jahrhundert begann eine erneute friesische Besiedlung, die durch die Nutzung von Wurten und später durch den Bau von Deichen die Erschließung der Marschen ermöglichte.
Zwischen 650 und 700 entstand ein friesisches Heerkönigtum, das sich gegen die fränkische Expansion behauptete. Karl der Große schlug die Friesen 785 und gliederte Friesland bis zur Weser in das Frankenreich ein. Diese Zeit markierte auch den Beginn der Christianisierung und die Errichtung zahlreicher Klöster, die das geistige und kulturelle Leben prägten.
Die Zeit der Friesischen Freiheit
Im 12. Jahrhundert entwickelte sich die sogenannte Friesische Freiheit. Diese Ära war durch eine Konsularverfassung geprägt, bei der „Redjeven“ (Rechtsprecher) die Regionen leiteten. Jährliche Versammlungen am Upstalsboom bei Aurich dienten der Rechtsprechung und politischen Entscheidungen. Die Friesische Freiheit endete im 14. Jahrhundert infolge von Pest, Sturmfluten und internen Konflikten. Lokale Häuptlinge übernahmen zunehmend die Kontrolle.
Herrschaft der Häuptlinge und Aufstieg der Cirksena
Die Häuptlingsherrschaft war von Machtkämpfen geprägt. In dieser Zeit fanden auch die Vitalienbrüder, berüchtigte Seeräuber, in Ostfriesland Unterschlupf. Erst Edzard Cirksena setzte sich um 1430 als führende Kraft durch. 1464 erhob Kaiser Friedrich III. die Cirksena in den Reichsgrafenstand und verlieh ihnen die Herrschaft über Ostfriesland. Später wurden sie in den Fürstenstand erhoben.
Die Herrschaft der Cirksena brachte eine politische Konsolidierung und wirtschaftliche Stabilität. Die Reformation im 16. Jahrhundert führte zu einer konfessionellen Spaltung: Während der Osten Ostfrieslands lutherisch geprägt wurde, dominierte im Westen der Calvinismus. Emden entwickelte sich durch den Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge zu einem bedeutenden Handels- und Kulturzentrum. Die Stadt spielte eine zentrale Rolle in der Verbreitung des Calvinismus und wurde als „Genf des Nordens“ bezeichnet.
Von Preußen bis zur Moderne
Mit dem Tod des letzten Cirksena-Fürsten 1744 fiel Ostfriesland an Preußen. Diese Herrschaftsperiode brachte wirtschaftlichen Fortschritt, darunter den Ausbau von Kanälen und die Urbarmachung der Moore. Während der napoleonischen Besatzung (1806–1813) wurde Ostfriesland dem Kaiserreich Frankreich angegliedert, was tiefgreifende gesellschaftliche Reformen mit sich brachte. Nach dem Wiener Kongress 1815 fiel die Region an das Königreich Hannover und 1866 erneut an Preußen.
Im 19. Jahrhundert führten wirtschaftliche Notlagen zu einer massiven Auswanderungswelle in die USA. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung Emdens als Hafenstadt, vor allem durch den Bau des Dortmund-Ems-Kanals (1899), der den Seehandel deutlich förderte. Ostfriesland blieb trotz dieser Entwicklungen landwirtschaftlich geprägt. Typisch für die Region sind die Gulfhäuser, die das ländliche Leben bis heute prägen.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Die nationalsozialistische Herrschaft brachte schwere Repressionen. Während der Reichspogromnacht 1938 wurden zahlreiche Synagogen zerstört. Im Zweiten Weltkrieg erlitt vor allem Emden schwere Bombenschäden. Das KZ Engerhafe, ein Nebenlager des KZ Neuengamme, wurde für den Bau von Panzergräben errichtet; viele Häftlinge starben.
Die wirtschaftliche Infrastruktur Ostfrieslands wurde durch den Krieg stark beeinträchtigt. Der Wiederaufbau nach 1945 stellte die Region vor große Herausforderungen, nicht zuletzt wegen der Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten.
Nachkriegszeit und Gegenwart
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ostfriesland Teil des neu gegründeten Landes Niedersachsen. Der Wiederaufbau förderte den wirtschaftlichen Aufschwung, insbesondere durch die Ansiedlung des Volkswagenwerks in Emden (1964). Heute ist die Region durch erneuerbare Energien, Tourismus und Landwirtschaft geprägt. Herausforderungen wie der Klimawandel und die Abwanderung junger Menschen prägen weiterhin das Gesicht der Region.
Die kulturelle Identität Ostfrieslands bleibt stark. Initiativen zur Pflege des Plattdeutschen, der Aufbau von Museen und kulturellen Einrichtungen sowie ein zunehmendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit tragen dazu bei, die Traditionen der Region zu bewahren und sie gleichzeitig zukunftsfähig zu machen.
Ostfriesland hat sich zudem als ein Zentrum für erneuerbare Energien etabliert. Windkraftanlagen prägen das Landschaftsbild, und innovative Projekte wie die Speicherung von grünem Wasserstoff sind in der Entwicklung. Der Tourismus, insbesondere auf den Ostfriesischen Inseln, bleibt ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Festivals, kulturelle Veranstaltungen und die Pflege historischer Gebäude und Traditionen ziehen jedes Jahr zahlreiche Besucher an.
Kultur
Sprache und Dialekte
In Ostfriesland spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Die vorherrschende Volkssprache ist das Ostfriesische Platt, eine nordniedersächsische Variante des Niederdeutschen. Diese Region gehört zu den wenigen noch intakten Sprachgebieten des Niederdeutschen, obwohl genaue Sprecherzahlen fehlen. Studien zeigen, dass mindestens 80 Prozent der Ostfriesen Plattdeutsch verstehen und etwa die Hälfte aktiv spricht. Jedoch gibt es ein starkes Altersgefälle: Während die Mehrheit der über 40-Jährigen Platt beherrscht, sprechen es nur etwa ein Viertel der unter 30-Jährigen aktiv.
Bemühungen zur Förderung der Zweisprachigkeit unterstützen die Region. So engagiert sich die Ostfriesische Landschaft für zweisprachige Bildungsangebote in Schulen und Kindergärten. Auch Vereine wie Oostfreeske Taal tragen zur Pflege des Plattdeutschen bei. Regionale Verlage publizieren plattdeutsche Literatur, und in Zeitungen erscheinen regelmäßig Artikel auf Plattdeutsch.
Die historische Ursprache Ostfrieslands war jedoch Friesisch, das heute fast vollständig durch Niederdeutsch und Hochdeutsch ersetzt wurde. Nur im abgelegenen Saterland hat sich mit dem Saterfriesischen eine friesische Sprache erhalten, die von etwa 2000 Menschen gesprochen wird. Diese sprachliche Entwicklung spiegelt sich auch in der einzigartigen Wortschatzmischung des Ostfriesischen Platt wider, das Einflüsse aus Friesisch, Niederländisch und Altniederdeutsch bewahrt hat.
Besonderheiten wie der Gruß „Moin“, der rund um die Uhr verwendet wird, unterstreichen die sprachliche Eigenart Ostfrieslands. Die Herkunft des Grußes ist umstritten, aber seine Verbreitung begann nachweislich in dieser Region.
Ergänzend dazu haben sich plattdeutsche Ortsnamen vielerorts erhalten, etwa in Form von zweisprachigen Ortsschildern, wie in Aurich (Auerk) oder Norderney (Nöördeneei). Diese Schilder verdeutlichen den Stolz der Region auf ihre sprachlichen Wurzeln.
Sehenswürdigkeiten
Historische Sakralbauten
Ostfriesland zeichnet sich durch eine große Anzahl beeindruckender Kirchen aus. Besonders hervorzuheben ist die Ludgerikirche in Norden, die größte Kirche der Region. In Emden beeindrucken die Neue Kirche und die Große Kirche, welche historische und moderne Architektur vereinen. Die Große Kirche beherbergt heute die Johannes a Lasco Bibliothek und verbindet mittelalterliche Baukunst mit einem Neubau aus den 1990er-Jahren. Ein besonderes Unikat ist die Suurhuser Kirche, deren Turm als zweitschiefster der Welt im Guinness-Buch der Rekorde geführt wird.
Profanbauten und Museen
Die ostfriesischen Städte wie Aurich, Leer und Emden beherbergen zahlreiche historische Profanbauten, die die Baukunst verschiedener Epochen seit dem 15. Jahrhundert repräsentieren. Trotz der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg sind in Emden viele historische Gebäude erhalten geblieben, ergänzt durch eine Vielzahl von Bunkern, die heute vielseitig genutzt werden.
Für Kunst- und Kulturliebhaber bieten die Region viele Museen. Zu den bekanntesten zählen die Kunsthalle Emden, das Ostfriesische Landesmuseum und die Teemuseen in Norden und Leer. Historische Einblicke gewährt das Haus Samson in Leer, das ostfriesische Wohnkultur des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt. Daneben gibt es zahlreiche kleinere Heimatmuseen, wie das Ostfriesische Landwirtschaftsmuseum in Campen oder das Moormuseum Moordorf, das die Geschichte der Moorkolonisation beleuchtet.
Klöster und Burgen
Die ehemalige Klosterlandschaft Ostfrieslands wird heute durch die stilisierte Rekonstruktion des Klosters Ihlow gewürdigt. Die Anlage erinnert an die historische Bedeutung der Klöster für die Entwicklung der Region. Wehrhafte und prachtvolle Bauten der ehemaligen Häuptlings- und Adelsfamilien sind ebenfalls zahlreich vertreten. Dazu gehören die Harderwykenburg in Leer und das Steinhaus in Bunderhee, die älteste erhaltene Häuptlingsburg Ostfrieslands. Das Schloss Lütetsburg nahe Norden lädt mit seinem weitläufigen Park zu Spaziergängen ein.
Mühlen, Leuchttürme und Dörfer
Ostfriesland ist bekannt für seine Windmühlen, vor allem die zahlreich erhaltenen Holländerwindmühlen. Die höchste steht in Hage, während die älteste, die Peldemühle in Wittmund, aus dem Jahr 1741 stammt. Berühmt sind auch die Zwillingsmühlen von Greetsiel, die in rot und grün leuchtend als Wahrzeichen dienen.
Die Leuchttürme Ostfrieslands sind ebenso beeindruckend. Der Pilsumer Leuchtturm, bekannt aus dem Film Otto – Der Außerfriesische von Komiker Otto Waalkes, ist ein beliebtes Fotomotiv und Markenzeichen der Region. Weiter beherbergt die Gemeinde Krummhörn den zweithöchsten Leuchtturm an der deutschen Nordseeküste in Campen.
Malerische Dörfer wie Greetsiel, Rysum und Ditzum ziehen mit ihrem historischen Charme Besucher an. Viele Dörfer wurden durch Dorferneuerungsprojekte aufgewertet und zählen heute zu den schönsten ihrer Art.
Veranstaltungen und Kultur
Die kulturellen Highlights Ostfrieslands umfassen das Internationale Filmfest Emden-Norderney und den Musikalischen Sommer in Ostfriesland, ein Festival klassischer Musik. Volksfeste wie der Gallimarkt in Leer, der jährlich eine halbe Million Besucher anzieht, unterstreichen die traditionsreiche Feierkultur der Region.
In Wiesmoor, der „Blumenstadt“, begeistert die Blumenhalle mit über 10.000 Blumen auf 1.500 Quadratmetern. Das jährliche Blütenfest lockt zahlreiche Besucher in die Stadt.
Orgellandschaft
Die Orgellandschaft Ostfriesland ist von internationaler Bedeutung und beeindruckt durch eine einzigartige Dichte und Vielfalt historischer Instrumente. In den rund 170 alten Kirchen der Region sind etwa 100 historische Orgeln erhalten, die einen repräsentativen Querschnitt durch die europäische Orgelbaugeschichte bieten. Diese Instrumente sind nicht nur ein Zeugnis künstlerischer und handwerklicher Meisterleistung, sondern auch ein Fenster in die kulturelle und musikalische Vergangenheit der Region.
Rysumer Orgel (ca. 1440)
Die Orgel in Rysum ist eines der herausragendsten Beispiele für die Orgellandschaft Ostfrieslands. Sie gilt als eine der ältesten spielbaren Orgeln der Welt und ist ein Meisterwerk der Spätgotik. Ihr nahezu vollständig erhaltener Grundbestand ermöglicht es, eine klangliche Vorstellung der mittelalterlichen Orgelmusik zu bekommen. Das Instrument wurde um 1531 erweitert, was ihre lange Nutzungsgeschichte unterstreicht.
Orgelbau im 16. und 17. Jahrhundert
Orgeln wie die in Osteel (1619), Westerhusen (1642–1643) und Uttum (etwa 1660) zeugen von der Weiterentwicklung des Orgelbaus in der Renaissance und im Barock. Diese Instrumente sind weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten und besitzen teilweise Pfeifenmaterial aus dem 16. Jahrhundert. Dies macht sie zu unverzichtbaren Quellen für die Erforschung der Klangästhetik dieser Epoche.
Arp Schnitger und die Blütezeit im 18. Jahrhundert
Der berühmte Orgelbauer Arp Schnitger hat mit seinen Neubauten in Norden, Weener und anderen Orten die Orgelbaukunst in Ostfriesland maßgeblich geprägt. Seine Instrumente sind ein Synonym für barocken Orgelbau auf höchstem Niveau. Im 18. Jahrhundert traten Johann Friedrich Wenthin und Hinrich Just Müller in Konkurrenz und bauten ebenfalls herausragende Orgeln, selbst in kleinen Dorfkirchen.
Erhaltung und Restaurierung
Zwischen 1850 und 1950 erlebte der ostfriesische Orgelbau einen Niedergang. Finanzielle Mittel fehlten, um neue Instrumente anzuschaffen, was paradoxerweise dazu beitrug, dass viele historische Orgeln unangetastet blieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine Restaurierungsbewegung ein, die maßgeblich von Jürgen Ahrend sowie den Orgelsachverständigen Harald Vogel und Reinhard Ruge initiiert wurde. Dank ihrer Arbeit konnten zahlreiche historische Instrumente bewahrt und wieder spielbar gemacht werden.
Organeum in Weener und kulturelle Bedeutung
Das Organeum in Weener ist heute ein zentraler Anlaufpunkt für die Erforschung und Vermittlung der Orgelkultur. Es bietet Konzerte, Führungen und Seminare an und trägt maßgeblich dazu bei, die Bedeutung der ostfriesischen Orgellandschaft einem breiteren Publikum näherzubringen. Festivals wie der Krummhörner Orgelfrühling oder die Nachtorgel in Dornum stellen die historischen Orgeln ins Rampenlicht und ziehen Besucher aus aller Welt an.
Ostfrieslands Orgellandschaft ist somit nicht nur ein musikalisches Erbe von unschätzbarem Wert, sondern auch ein lebendiger Teil der kulturellen Identität der Region. Die kontinuierliche Pflege und Präsentation der historischen Instrumente sichern ihre Bedeutung für kommende Generationen.
Essen und Trinken
Ostfriesische Teekultur
Ostfriesland ist bekannt für seine ausgeprägte Teekultur, die sich in einem außergewöhnlich hohen Teekonsum widerspiegelt: Mit rund 300 Litern pro Kopf und Jahr wird hier etwa elfmal mehr Tee getrunken als im restlichen Deutschland. Bereits im 17. Jahrhundert brachten vor allem die Niederländer und Briten den Tee in die Region. Ein Jahrhundert später war Tee in allen Gesellschaftsschichten fest etabliert und trug dazu bei, den zuvor hohen Bierkonsum deutlich zu senken. Die 1806 gegründete Firma Bünting, ein Teil der Bünting-Gruppe in Leer, begann damals mit der Herstellung des echten Ostfriesentees. Heute produzieren auch Thiele & Freese (Emden) sowie Onno Behrends (Norden) Teemischungen mit der geschützten Bezeichnung „Echter Ostfriesentee“.
Traditionell wird Gästen in Ostfriesland Tee als Begrüßungsgetränk serviert, wobei nach dem Brauch „Dree is Oostfresen Recht“ mindestens drei Tassen getrunken werden. Wer keinen weiteren Tee wünscht, signalisiert dies, indem er den Löffel in die Tasse legt. Die Teezeremonie ist dabei oft ein zentraler Bestandteil der ostfriesischen Gastfreundschaft und wird liebevoll zelebriert.
Spirituosen
Neben Tee hat die Region auch eine Auswahl an Spirituosen zu bieten. Dazu gehört der 32-prozentige Kräuterbitter Kruiden, dessen würzige Rezeptur bis heute geschätzt wird. Der bekannteste Schnaps, Doornkaat, wird seit 1992 nicht mehr in Norden, sondern im emsländischen Haselünne bei Berentzen hergestellt. Trotz dieser Verlagerung bleibt Doornkaat ein Symbol für die ostfriesische Trinkkultur.
Heutzutage liegt die Produktion ostfriesischer Spirituosen hauptsächlich bei Unternehmen wie Folts & Speulda in Leer und Heiko Blume in Friedeburg, die regionale Spezialitäten in die ganze Welt exportieren.
Wintergenüsse
In der Winterzeit ist Grünkohl mit Pinkel, Kassler oder durchwachsenem Speck das typische Hauptgericht der Region. Für die traditionelle ostfriesische Zubereitung wird das Fleisch direkt im Grünkohl gegart, um die kräftige Würze zu erzielen. Geerntet wird der Grünkohl traditionell erst nach mindestens einem Tag Frost, der für seinen charakteristischen Geschmack sorgt. Grünkohlessen ist in Ostfriesland oft ein gesellschaftliches Ereignis, das mit sogenannten „Grünkohltouren“ verbunden wird – gesellige Ausflüge, bei denen der Genuss des deftigen Gerichts im Mittelpunkt steht.
Labskaus und Meeresfrüchte
Ein weiteres regionaltypisches Gericht ist Labskaus, ein klassisches Seemannsessen, das inzwischen auch in gutbürgerlichen Restaurants serviert wird. Es wird oft mit Matjes oder Rollmops gereicht. Matjes selbst wird in Emden in verschiedenen Varianten produziert und ist ein wichtiger Bestandteil der ostfriesischen Küche. Neben Labskaus sind Fischbrötchen bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt.
Besonders frisch sind die in den Sielhäfen angelandeten Krabben, die häufig auf Schwarzbrot mit etwas Zitrone und Butter gegessen werden. Der Fischreichtum der Binnengewässer wird von Anglern geschätzt, die ihren Fang oft räuchern, um den typischen Geschmack der Region zu bewahren.
Silvester-Spezialitäten
Eine besondere Spezialität sind die ausschließlich zu Silvester zubereiteten Neujahrshörnchen, auch bekannt als Rullekes oder Nijaahrskook. Diese harten Waffeln in Hörnchenform werden nach alten Rezepten gebacken und symbolisieren einen guten Start ins neue Jahr. Ebenfalls nur zu Silvester gibt es Speckendicken, ein in der Pfanne gebratenes Gebäck, das sowohl als süße als auch herzhafte Variante beliebt ist. Diese kulinarischen Bräuche sind eng mit der ostfriesischen Festkultur verbunden und werden in vielen Familien über Generationen hinweg gepflegt.
Weitere regionale Spezialitäten
Weitere regionale Highlights sind der Snirtjebraten, ein saftiger Schweinebraten, der traditionell im Winter serviert wird, und Buttermilchbrei, ein einfaches, aber nahrhaftes Gericht, das vor allem in früheren Zeiten eine wichtige Rolle spielte. Beide Gerichte sind Ausdruck der bodenständigen und herzhaften ostfriesischen Küche.
Ergänzend zu diesen Spezialitäten hat die Region eine Vielzahl von Bäckereien, die traditionelle Gebäcke wie Ostfriesentorte und Rosinenstuten herstellen. Diese werden oft zusammen mit Tee oder Kaffee serviert und unterstreichen die Liebe der Ostfriesen zu süßen und herzhaften Leckereien. Auch Märkte und Dorffeste bieten eine Gelegenheit, die kulinarische Vielfalt der Region zu entdecken und sich mit lokalen Produkten einzudecken.
Bräuche und Traditionen
Zu den festlichen Bräuchen zählt das Aufstellen des Maibaums am Abend vor dem 1. Mai. Dieser Brauch, der einer alten eurasischen Tradition entspringt, hat in Ostfriesland eine besondere Ausprägung mit eigenen Regeln erhalten. Maibäume werden von Nachbarschaften, Vereinen oder ganzen Dörfern aufgestellt und bis zum Morgengrauen des 1. Mai bewacht. Dies erfolgt symbolisch, indem einer der Besitzer stets den Baum berührt. Wird diese Regel nicht eingehalten, kann der Baum mit drei symbolischen Spatenstichen „gestohlen“ werden. Eine Rückgabe erfolgt meist gegen einen Kasten Bier und Schnaps. Weitere Bräuche sind das Martinisingen und das Brautpfadlegen an Himmelfahrt. Auf den Ostfriesischen Inseln haben sich spezielle Traditionen bewahrt, wie das „Klaasohm“-Fest auf Borkum in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember, das ausschließlich von männlichen Insulanern organisiert wird.
Oster- und Nikolausbräuche
An Ostern ist das „Eiertrullern“ ein beliebtes Spiel. Mit den hart gekochten Ostereiern rollen Kinder und Erwachsene diese am Ostersonntag über Hügel oder Dünen, etwa auf den Ostfriesischen Inseln oder Erhebungen wie dem Plytenberg oder den Eierbergen in Wallinghausen.
Am Abend des 5. Dezember, dem Vorabend des Nikolaus-Tages, finden sogenannte Verknobelungen statt. Hierbei würfeln Teilnehmer in Geschäften, Gaststätten oder Vereinsveranstaltungen um Preise wie Torten, Backwaren oder Fleischprodukte. Mit drei Würfeln wird im Lederbecher gespielt, und der höchste Wurf gewinnt.
Bräuche rund um das Bauen und Feiern
Beim Richtfest eines Neubaus übernehmen Nachbarn in der Nacht zuvor die Aufgabe, einen Dachsparren zu verstecken. Das Bauherrenpaar muss diesen suchen, durch Schnaps „auslösen“ und wird anschließend von den Nachbarn durch die Siedlung zu ihrem Haus getragen. Nach dem Einsetzen des Sparrens wird der Dachkranz angebracht, und das Richtfest wird gefeiert.
Ein weiterer beliebter Brauch ist das „Bogenmachen“ zu Jubiläums- oder Hochzeiten. Die Nachbarn treffen sich einige Tage vor dem Anlass, um ein Bogengestell aus Tannenzweigen und Papierrosen zu gestalten. Dieses wird vor dem Hauseingang des Paares befestigt, oft begleitet von einer kleinen Feier auf der Einfahrt.
Geburtstagsrituale
Jugendliche feiern Geburtstage ebenfalls mit regionalen Bräuchen. Zum 16. Geburtstag fertigt der Freundeskreis ein mit witzigen Sprüchen bemaltes Bettlaken an, das heimlich am Haus des Geburtstagskindes angebracht wird. Um Mitternacht stößt die Clique gemeinsam an. Zum 18. Geburtstag wird zusätzlich ein Tannenbogen gestaltet und aufgestellt.
Unverheiratete, die ihren 30. Geburtstag feiern, müssen symbolische „Strafen“ über sich ergehen lassen: Männer fegen Treppen, Frauen putzen Türklinken. Von dieser Aufgabe befreit sie erst ein „Freikuss“ durch eine Jungfrau oder einen Jungmann. Bereits zum 25. Geburtstag werden ledige Männer als „Alte Socke“ und Frauen als „Alte Schachtel“ bezeichnet. Diese erhalten oft einen mit entsprechenden Utensilien geschmückten Bogen, der gut sichtbar vor dem Haus angebracht wird.
Traditionssportart Boßeln
Eine weitere tief in der ostfriesischen Kultur verwurzelte Tradition ist die Sportart Boßeln. Diese wird insbesondere in den Wintermonaten auf den ländlichen Straßen Ostfrieslands ausgetragen. Boßeln, ein Vorläufer des modernen Klootschießens, ist sowohl Wettkampf als auch geselliges Ereignis. Ziel des Spiels ist es, eine schwere Kugel aus Holz oder Kunststoff mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke zu rollen. Der Kurs verläuft meist über Landstraßen, und Teams aus Nachbarn, Freunden oder Vereinsmitgliedern treten gegeneinander an. Boßeln ist ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem auch Zuschauer gerne teilnehmen, indem sie die Werfer anfeuern und den Tag mit einem Umtrunk abrunden.
Neben dem sportlichen Ehrgeiz steht die Geselligkeit im Vordergrund: Begleitend zum Wettkampf wird in Pausen häufig Tee oder Schnaps gereicht, und am Ende des Tages feiern die Teilnehmer oft gemeinsam in einer Gaststätte. Die Regeln variieren von Region zu Region, wodurch jede Gemeinde ihre ganz eigene Variante des Spiels hat. Boßeln spiegelt den starken Gemeinschaftssinn der Ostfriesen wider und hat sich nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern auch als Wettkampfsport etabliert, der regelmäßig in Vereinen organisiert wird.
Besondere Traditionen und regionale Eigenheiten
Ein herausragendes Merkmal der ostfriesischen Kultur ist der Beruf des „Knochenbrechers“ (plattdeutsch: Knakenbreker). Diese Bezeichnung stammt aus dem Volksmund und beschreibt eine traditionelle Form des alternativen Heilens, die tief in der regionalen Geschichte und den lokalen Überlieferungen verwurzelt ist. Der Knochenbrecher ist kein akademisch ausgebildeter Mediziner, sondern ein Heilkundler, der sich auf das Einrenken von Gelenken, das Behandeln von Verstauchungen, Zerrungen und ähnlichen Beschwerden spezialisiert hat. Sein Wissen basiert auf jahrzehntelanger Erfahrung und wird oft innerhalb von Familien oder durch langjährige praktische Tätigkeit weitergegeben.
Wirtschaft
Geschichte
Ostfrieslands wirtschaftliche Entwicklung war geprägt von einem Wechselspiel aus Armut und Wohlstand. Besonders im Küstengebiet existierte ein starkes soziales Gefälle zwischen einer kleinen Schicht wohlhabender Hofbesitzer und einer großen Zahl landloser Landarbeiter. Die daraus resultierende Armut führte dazu, dass viele junge Ostfriesen als Wanderarbeiter, sogenannte „Hollandgänger“, in die Niederlande gingen oder ihre Heimat dauerhaft verließen. Eine große Zahl wanderte in die USA aus, wo bis heute ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn unter den Nachkommen besteht.
Seit dem 20. Jahrhundert zeichnet sich zudem eine Abwanderung von Talenten ab, da viele junge Menschen für Studiengänge oder Berufsausbildungen Ostfriesland verlassen müssen. Die Rückkehrquote nach Abschluss der Ausbildung ist gering.
Die Arbeitslosenquote lag im Februar 2023 bei 6,9 %, ein Anstieg von 0,6 % im Vergleich zum Vorjahr.
Landwirtschaft und Fischerei
Landwirtschaft
Die Landwirtschaft war über Jahrhunderte der zentrale Wirtschaftszweig Ostfrieslands. Obwohl Handel und Industrie insbesondere seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung gewannen, bleibt die Landwirtschaft auch im 21. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil.
2020 existierten in Ostfriesland 2.946 landwirtschaftliche Betriebe, die eine Fläche von 195.130 Hektar bewirtschafteten. Besonders ausgeprägt ist die Milchwirtschaft, da das fruchtbare Weideland hervorragende Bedingungen bietet. Ostfriesland gehört zu den Hauptregionen der Milchviehhaltung in Deutschland, mit 149.110 Milchkühen. Dennoch gibt es nur noch eine größere Molkerei in Ostfriesland (Rücker in Aurich), während andere Molkereien in angrenzenden Regionen liegen.
Auch der Ackerbau ist bedeutend. In den Poldergebieten wird vor allem Weizen, Mais und Raps angebaut, während in Moor- und Geestregionen die Viehwirtschaft dominiert.
Die Landwirtschaft hat außerdem zur kulturellen Entwicklung beigetragen, etwa durch die Entstehung von Fehnkolonien und Wallhecken. Zunehmend wird die regenerative Energieerzeugung durch Windkraft und Biomasse für Landwirte eine wichtige Einnahmequelle.
Fischerei
Die Fischerei in Ostfriesland ist ein wesentlicher Bestandteil der regionalen Wirtschaft und Kultur, auch wenn sie sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Während die Hochseefischerei mittlerweile kaum noch eine Rolle spielt, konzentrieren sich die Aktivitäten vor allem auf die nachhaltige Nutzung der Ressourcen im Wattenmeer und der angrenzenden Binnengewässer. Im Fokus stehen insbesondere die Nordseekrabbe (auch Nordseegarnele genannt) und die Miesmuschel. Auch die Binnenfischerei hat ihren festen Platz in der regionalen Tradition und trägt zur Versorgung mit Frischfisch aus heimischen Gewässern bei.
Industrie
Die Industrialisierung setzte in Ostfriesland vergleichsweise spät ein. Frühe Industrien wie Schiffbau und Textilproduktion wurden später durch die Errichtung des Volkswagenwerks in Emden (1964) ergänzt, das heute mit rund 8.000 Beschäftigten der größte industrielle Arbeitgeber ist. Der Schiffbau bleibt ein zentraler Wirtschaftszweig, vor allem durch die Meyer Werft im benachbarten Papenburg.
Die Region ist zudem ein Zentrum für erneuerbare Energien. Enercon, ein führender Hersteller von Windkraftanlagen, hat seinen Sitz in Aurich. Insgesamt erzeugt Ostfriesland mehr Strom aus erneuerbaren Energien, als es verbraucht.
In Emden und Dornum befinden sich Anlandestationen für norwegisches Nordsee-Erdgas, das etwa 30 % des deutschen Verbrauchs deckt.
Dienstleistungen und Tourismus
Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, vor allem auf den Ostfriesischen Inseln. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich dort ein florierender Badebetrieb. Im Binnenland gewinnt der Tourismus durch den Ausbau von Rad- und Wanderwegen zunehmend an Bedeutung. Auch der Kulturtourismus hat durch Einrichtungen wie die Kunsthalle Emden an Dynamik gewonnen.
Leer ist ein wichtiger Standort der Schifffahrt und beherbergt den zweitgrößten Anteil der deutschen Seehandelsflotte. Aurich und Leer sind zudem bedeutende Einkaufszentren der Region.
Öffentliche Einrichtungen und Behörden
Ostfriesland ist Standort wichtiger Behörden, darunter die Hochschule Emden/Leer, das Landgericht Aurich und zahlreiche Landes- und Bundesbehörden. Aurich, Leer und Wittmund dienen außerdem als Garnisonsstädte der Bundeswehr.
Zusammenfassend ist Ostfriesland eine Region, die durch Landwirtschaft, erneuerbare Energien, Industrie und Tourismus geprägt ist. Während die Abwanderung von Talenten und die Monostrukturen in der Industrie Herausforderungen darstellen, bietet die starke Identität der Region auch Chancen für eine nachhaltige Entwicklung.
Persönlichkeiten
Ostfriesland hat im Laufe der Jahrhunderte eine beeindruckende Zahl bedeutender Persönlichkeiten hervorgebracht, die teils regional, teils national oder international Berühmtheit erlangten. Auffällig ist dabei, dass viele von ihnen ihre Karrieren außerhalb der Region begannen oder fortsetzten – ein Hinweis auf die periphere Lage und das Fehlen einer zentralen Metropole.
Kultur und Unterhaltung
Der wohl international bekannteste Ostfriese ist der aus Emden stammende Filmregisseur Wolfgang Petersen. National sind insbesondere Otto Waalkes und Karl Dall, ebenfalls aus Emden, herausragende Persönlichkeiten. Otto betont in seinen zahlreichen Musikalben und Filmen immer wieder seine ostfriesische Herkunft. Auch H.P. Baxxter, der Frontmann der Techno-Band Scooter, stammt aus Ostfriesland, genauer gesagt aus Leer.
Medien und Journalismus
Der Journalist Henri Nannen, Gründer des Magazins Stern, hat die deutsche Presselandschaft nachhaltig geprägt. Heiko Engelkes, ein angesehener ARD-Korrespondent, wurde in Norden geboren und war viele Jahre in Paris tätig.
Wissenschaft und Philosophie
Zu den bedeutendsten Denkern zählt der Auricher Philosoph Hermann Lübbe, einer der bekanntesten Philosophen der Gegenwart. Rudolf Eucken, ebenfalls aus Aurich, erhielt 1908 den Literatur-Nobelpreis und bleibt bis heute der einzige Ostfriese mit dieser Auszeichnung. Die aus Pewsum stammende Hermine Heusler-Edenhuizen war 1911 die erste offiziell anerkannte Frauenärztin Deutschlands.
Auch in der Wissenschaft und Geschichte glänzt Ostfriesland: Ubbo Emmius, ein Universalgelehrter aus Greetsiel, war Gründungsrektor der Universität Groningen. Albert Seba, ein Apotheker und Naturaliensammler, wurde mit seiner Sammlung und deren Dokumentation zum Vorbild für Enzyklopädisten wie Denis Diderot. Der Astronom Johann Fabricius aus Resterhafe entdeckte unabhängig von Galileo Galilei die Sonnenflecken. Der Historiker Onno Klopp aus Leer machte sich im 19. Jahrhundert als letzter Historiograph der Welfen einen Namen.
Politik
Auch die Politik brachte bedeutende Persönlichkeiten hervor: Der SPD-Politiker Garrelt Duin aus Hinte bekleidete mehrere bedeutende Ämter, unter anderem als Minister in Nordrhein-Westfalen. Ulf Thiele aus Uplengen war niedersächsischer CDU-Generalsekretär. Reinhold Robbe, einst Wehrbeauftragter des Bundestages, stammt aus Bunde, und Johann Saathoff vertritt seit 2013 als SPD-Politiker den Wahlkreis Emden im Bundestag.
Sport
Sportlich herausragend war Dieter Eilts aus Upgant-Schott, der zur deutschen Fußball-Europameistermannschaft von 1996 gehörte. Bernd Flessner aus Norderney ist mit 14 deutschen Meistertiteln der erfolgreichste Windsurfer Deutschlands. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, ein angesehener Sportmediziner, stammt aus Leerhafe. Die frühere Box-Weltmeisterin Heidi Hartmann und der Fußball-Nationalspieler Ferydoon Zandi sind in Emden geboren, während die Leichtathletin Silvia Rieger aus Hinte stammt.
Verbundenheit zur Region
Einige prominente Persönlichkeiten wurden zwar nicht in Ostfriesland geboren, haben jedoch eine besondere Verbindung zur Region. Der Seeräuber Klaus Störtebeker fand im 14. Jahrhundert Unterschlupf in Ostfriesland, vor allem in Marienhafe. Johannes Althusius, ein bedeutender Rechtsgelehrter, prägte im 17. Jahrhundert die Geschicke der Stadt Emden. Ernst Reuter, später Regierender Bürgermeister von Berlin, verbrachte einen Teil seiner Jugend in Leer. Auch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schätzt Ostfriesland und hat sich auf Borkum einen Zweitwohnsitz eingerichtet. Der Künstler Ole West lebte und arbeitete bis 2008 auf Norderney.
Fazit
Ostfriesland, gelegen im äußersten Nordwesten Deutschlands, ist geprägt von seiner kulturellen Eigenständigkeit und landschaftlichen Vielfalt. Die Region verbindet eine reiche Geschichte, die von der friesischen Freiheit bis zur modernen Industrialisierung reicht, mit einer lebendigen Identität.
Geprägt durch die Nordsee, Deiche und das Wattenmeer, bietet sie einzigartige Naturerlebnisse und ist UNESCO-Weltnaturerbe. Wirtschaftlich spielen Landwirtschaft, Tourismus und erneuerbare Energien eine bedeutende Rolle, während die Region mit strukturellen Herausforderungen kämpft. Plattdeutsch, Teekultur und Brauchtum prägen die Verbundenheit der Ostfriesen mit ihrer Heimat, die auch heute ihre Traditionen bewahrt und in die Zukunft blickt.
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