Der Dollart (niederländisch: Dollard, plattdeutsch: Dullert) ist eine faszinierende und geschichtsträchtige Bucht im Mündungsgebiet der Ems, die sich südlich der Seehafenstadt Emden erstreckt. Mit einer Fläche von etwa 90 km² und einer einzigartigen Landschafts- und Kulturgeschichte stellt der Dollart ein bedeutendes Gebiet sowohl aus geografischer als auch aus historischer und ökologischer Sicht dar.
Geografische Lage und Hydrologie
Die Bucht des Dollarts wird im Norden durch eine etwa zwei Kilometer breite Verbindung zwischen der niederländischen Landzunge Punt van Reide und der Geise mit der Nordsee verbunden. Diese natürliche Verbindung ist entscheidend für die Gezeitenzirkulation und den Austausch von Salzwasser, das aus der Nordsee eindringt, und Süßwasser, das hauptsächlich durch die Westerwolder Aa (niederländisch: Westerwoldse Aa) aus südlicher Richtung zugeführt wird. Die entstehende Mischung schafft ein dynamisches Brackwassergebiet, das durch variierende Salzgehalte und Wasserbedingungen geprägt ist. Diese Unterschiede in der Salzkonzentration machen den Dollart zu einem einzigartigen Lebensraum, der vielen spezialisierten Tier- und Pflanzenarten ideale Bedingungen bietet.
Ein markantes Merkmal dieser Region ist das große Wattgebiet, das bei Niedrigwasser bis zu 78 Prozent der Gesamtfläche trockenfallen lässt. Diese freigelegten Wattflächen sind von besonderer Bedeutung für Zugvögel, die hier Rast- und Nahrungsplätze finden. Das Wattgebiet wird durch ein komplexes Priel- und Rinnensystem durchzogen, wobei das Groote Gat als größte Strömungsrinne eine zentrale Rolle spielt. Dieses Prielsystem ist eng mit der hydrologischen Dynamik des Dollarts verbunden und beeinflusst sowohl die Sedimentbewegung als auch die Verteilung von Nährstoffen in der Bucht.
Seit dem 19. Jahrhundert haben zahlreiche wasserbauliche Maßnahmen das hydrologische Erscheinungsbild des Dollarts nachhaltig geändert. Dazu gehören die Anlage von Strombuhnen und Leitwerken, die primär dazu dienten, die Erosion zu kontrollieren, die Sedimentablagerung zu lenken und den Hochwasserschutz zu verbessern. Diese Bauwerke unterstreichen die hohe Bedeutung des Dollarts sowohl für die Schifffahrt als auch für den Schutz der angrenzenden Siedlungsgebiete vor Überschwemmungen. Die Balance zwischen menschlichen Eingriffen und der Erhaltung natürlicher Prozesse bleibt eine dauerhafte Herausforderung.
Entstehung und historische Entwicklung
Der Dollart ist das Resultat von verheerenden Meereseinbrüchen im späten Mittelalter, die ähnlich wie der Jadebusen durch Sturmfluten und den Anstieg des Meeresspiegels verursacht wurden. Diese Naturkatastrophen, insbesondere die Zweite Marcellusflut (1362), auch als „Große Mandränke“ bekannt, sowie die Zweite Cosmas- und Damianflut (1509), veränderten die Landschaft Ostfrieslands und des angrenzenden niederländischen Gebiets nachhaltig. Sie zerstörten nicht nur die ursprüngliche Moorlandschaft, sondern schufen durch die Erosion und das Eindringen von Salzwasser eine weitläufige, trichterförmige Bucht.
Die archäologischen Funde aus der Region deuten darauf hin, dass einige Abschnitte des heutigen Dollarts noch bis ins 15. Jahrhundert hinein süßwassergeprägt waren. Dies legt nahe, dass die Umwandlung in eine Brackwasserzone schrittweise erfolgte. Dennoch fielen zahlreiche Dörfer und Kirchspiele den Überschwemmungen zum Opfer. Unter den verloren gegangenen Orten befinden sich bekannte Namen wie Kalentwalt, Torum und Wilgum, aber auch kleinere Siedlungen, deren genaue Lage heute nur schwer zu bestimmen ist. Insgesamt sind mehr als 20 Kirchspiele, etwa 10 bis 15 Dörfer und drei Klöster dokumentiert, die entweder durch die direkten Flutfolgen zerstört wurden oder aufgrund der fortschreitenden Versalzung und Erosion aufgegeben werden mussten.
Die Veränderungen des Dollarts durch diese Fluten waren tiefgreifend. Das Gebiet war nicht nur Schauplatz großer Naturereignisse, sondern auch Zeuge einer kulturellen Umwälzung. Die Überschwemmungen führten zur dauerhaften Aufgabe ganzer Regionen und zur Umsiedlung von Bevölkerungen in sicherere Gebiete, was die Landschafts- und Siedlungsstruktur der Region bis heute prägt.
Auswirkungen und Landrückgewinnung
Die Veränderungen des Flusslaufs der Ems infolge der Sturmfluten und der damit einhergehenden Überschwemmungen führten zu erheblichen infrastrukturellen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Emden, dessen Hafen zunehmend verschlickte, versuchte mit Bauprojekten wie dem „Nesserlander Höft“ die Situation zu stabilisieren. Trotz zahlreicher Versuche wurden diese Maßnahmen oft von den Naturgewalten überwältigt.
Ab dem 16. Jahrhundert begann die sukzessive Wiedergewinnung von Land durch Einpolderungen. Insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert schritten diese Arbeiten voran, wodurch der Dollart auf etwa ein Drittel seiner einstigen Größe schrumpfte. Die letzten größeren Polder, wie der Kanalpolder (1877) und der Wybelsumer Polder (1912–1923), zeugen von der jahrhundertelangen Anstrengung, Land aus den Fluten zurückzugewinnen.
Ökologische Bedeutung
Die heutige Bucht des Dollarts ist ein äußerst wichtiger Lebensraum für eine Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten. Insbesondere der Brackwassercharakter, der durch die Mischung von Nordseewasser und Süßwasser entsteht, bietet spezialisierte Ökosysteme, die sowohl für marine als auch für limnische Arten ideal sind. Die großflächigen Wattgebiete dienen als essentielle Rast- und Nahrungsflächen für Zugvögel, darunter zahlreiche bedrohte Arten. Jährlich nutzen Zehntausende von Wildgänsen den Dollart als Zwischenstopp, darunter Blessgänsen, Nonnengänsen, Waldsaatgänsen und Graugänsen. Diese majestätischen Vögel finden auf den umliegenden Grasländern reiche Nahrungsquellen. Im Frühjahr, insbesondere im Mai, ist der Dollart ein Hotspot für die Beobachtung von Dunkelwasserläufern und Regenbrachvögeln, die hier in großer Zahl rasten und ihren Weiterflug vorbereiten.
Seit dem Jahr 2000 gehört der Dollart offiziell zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, der als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt ist. Der deutsche Teil der Bucht, insbesondere die Schutzzone I, steht unter strengem Schutz, um die empfindliche Natur vor negativen Einflüssen wie Verschmutzung, unkontrolliertem Tourismus oder industriellen Eingriffen zu bewahren. Diese Schutzmaßnahmen tragen entscheidend dazu bei, die Biodiversität und die Funktionalität dieses einzigartigen Lebensraumes langfristig zu sichern.
Sehenswürdigkeiten und Freizeitmöglichkeiten
Neben seiner ökologischen Bedeutung bietet der Dollart auch kulturelle und touristische Attraktionen. Die aufgeschüttete Plattform bei Pogum-Dyksterhusen, einst für Erdgasbohrungen genutzt, dient heute als Aussichtspunkt. Von hier aus können Besucher die gesamte Bucht überblicken. Bei Flut bietet sich die Möglichkeit zum Baden und Surfen.
Ein besonderes Highlight ist das historische Kreierrennen. Diese Tradition erinnert an die Fischerei mit Wattschlitten, die einst für den Zugang zu Reusen im Watt genutzt wurden. Das Rennen zieht jährlich zahlreiche Besucher an und verbindet Naturerlebnis mit kulturellem Erbe.
Grenzverlauf und internationale Zusammenarbeit
Der Dollart liegt an der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden, wobei die genaue Ost-West-Grenze innerhalb der Bucht bis heute nicht eindeutig definiert ist. Diese Unklarheit hat in der Vergangenheit zu wiederholten Diskussionen und diplomatischen Verhandlungen geführt, da die Interessen beider Länder hinsichtlich Schifffahrt, Fischerei und Naturschutz oft unterschiedlich gelagert sind.
Die Schifffahrt wird durch eine binationale Schifffahrtsordnung geregelt, die klare Vorgaben für die Nutzung der Wasserstraßen macht, um den Verkehr sicher und effizient zu gestalten. Diese Kooperation verdeutlicht die Bedeutung des Dollarts als gemeinsame Ressource und die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zur Bewältigung grenzüberschreitender Herausforderungen.
Fazit
Trotz des umfangreichen Naturschutzes steht der Dollart weiterhin unter dem Einfluss menschlicher Eingriffe. Die Fertigstellung des Emssperrwerks 2002 und seine Auswirkungen auf die Gezeiten und das ökologische Gleichgewicht des Dollarts sind Gegenstand laufender Beobachtungen. Die Balance zwischen Naturschutz und wirtschaftlicher Nutzung bleibt eine zentrale Herausforderung für die Region.
Zusammenfassend zeigt der Dollart eindrucksvoll die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur über die Jahrhunderte. Seine Entstehungsgeschichte als Ergebnis von Naturkatastrophen, die darauffolgenden Bemühungen zur Landgewinnung und die moderne Nutzung als Lebensraum und Schutzgebiet machen ihn zu einem einzigartigen kulturellen, ökologischen und historischen Erbe. Der Dollart ist nicht nur ein bedeutendes Ökosystem, sondern auch ein Ort, an dem die Geschichte der Region und die Bedeutung nachhaltigen Handelns lebendig werden.
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