Die Warftendörfer in Ostfriesland sind ein herausragendes Beispiel für die Anpassung der Menschen an die Herausforderungen der Nordseeküste. Diese Dörfer, auch als Wurtendörfer bezeichnet, spiegeln eine jahrtausendealte Kultur wider, die geprägt ist von einer engen Verbindung zur Natur und dem ständigen Kampf gegen das Wasser. Ostfriesland, bekannt für seine weiten Marschlandschaften und das Wattenmeer, hat durch seine Warftendörfer nicht nur die Lebensbedingungen seiner Bewohner verbessert, sondern auch eine einzigartige Kulturlandschaft geschaffen.
Entstehung der Warftendörfer
In einer Phase eines niedrigen Meeresspiegels um die Zeitenwende entstanden auch in Ostfriesland Flachsiedlungen in Meeresnähe. Diese Siedlungen wurden jedoch infolge steigender Sturmflutspiegelstände erhöht, indem die Bewohner für jedes neue Haus ringförmige, etwa ein Meter hohe Hügel aus Mist und Klei aufschütteten. Durch kontinuierliche Aufschüttungen entstanden im Lauf der Zeit sogenannte Hof- oder Kernwarften, die sich ab dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. zu Dorfwarften zusammenschlossen.
Nachdem viele dieser alten Warften im 4. und 5. Jahrhundert aufgegeben wurden, begann im 7. Jahrhundert eine Neubesiedlung des ostfriesischen Küstengebietes durch Friesen und Sachsen. Wieder entstanden Flachsiedlungen, die aufgrund erneuter Überschwemmungen ab dem 9. Jahrhundert zu Warften erhöht werden mussten. Während des gesamten 1. Jahrtausends wurden diese Hügel hauptsächlich aus Mist und gelegentlich mit einer Abdeckung aus Kleisoden aufgeschüttet. Ab dem 11. Jahrhundert setzte sich die Nutzung von reinem Klei durch, was zu stabileren und höheren Warften führte.
Vor der im 11. Jahrhundert beginnenden Eindeichung der Marschen waren Warften die einzige effektive Schutzmöglichkeit vor Sturmfluten. Auf den Halligen in Nordfriesland dienen sie bis heute als unverzichtbarer Hochwasserschutz.
Struktur der Warftendörfer
Ein typisches ostfriesisches Warftendorf folgt einer klaren Struktur, die durch die Funktion und den Schutzbedarf geprägt ist. Zu den bekanntesten Warftendörfern Ostfrieslands zählen Rysum, Manslagt, Pilsum und Loquard, alle in der Krummhörn gelegen.
Zentrale Kirche
Im Mittelpunkt vieler Warftendörfer steht eine Kirche, die auf der höchsten Warft errichtet wurde. Diese Kirchen waren nicht nur Orte der Andacht, sondern spielten auch eine zentrale Rolle im sozialen und kulturellen Leben der Gemeinde. Sie dienten zudem als Schutzraum während Sturmfluten, da sie auf den höchsten Punkten der Warft errichtet wurden und durch ihre massive Bauweise Widerstandskraft boten. Ein herausragendes Beispiel ist die Kirche von Rysum, die aus dem 12. Jahrhundert stammt. Ihre erhöhte Lage und die massiven Mauern zeugen von der Schutzfunktion, die sie über Jahrhunderte innehatte. Um die Kirche herum befand sich oft ein Friedhof, wie in Rysum, dessen Gräber durch zusätzliche Erdaufschüttungen zur Stabilität der Kirchwarft beitrugen.
Ringförmige Anordnung
Um die zentrale Kirchwarft gruppieren sich kleinere Warften, die Bauernhöfe, Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude beherbergen. Diese ringförmige Anordnung ist charakteristisch für viele Warftendörfer in Ostfriesland und ermöglicht eine enge Verbindung zwischen den Dorfbewohnern. Die Straßen und Wege, die die einzelnen Warften verbinden, sind oft durch Gräben flankiert, die zur Entwässerung und zum Schutz vor Überschwemmungen dienen. In Loquard beispielsweise sind die konzentrischen Ringe des Dorfes besonders gut erkennbar und vermitteln ein eindrucksvolles Bild von der strukturierten Bauweise dieser Siedlungen.
Wirtschaftliche Gebäude
Die landwirtschaftlichen Gebäude in Warftendörfern waren früher zentrale Bestandteile des Lebens. Bauernhöfe wie in Manslagt lagen auf Warften, um Tiere, Ernten und Maschinen vor Sturmfluten zu schützen. Diese autarken Einheiten waren auf Viehzucht, Ackerbau und Torfabbau spezialisiert. Die Scheunen und Ställe wurden so angeordnet, dass sie sowohl Schutz vor Wind boten als auch eine effiziente Nutzung des begrenzten Raumes auf der Warft ermöglichten. Noch heute sind viele dieser Gebäude erhalten und dienen als Beispiele traditioneller Baukunst.
Äußere Schutzanlagen
Zusätzlich zu den Warften selbst sorgen Gräben, kleine Deiche und Baumreihen für Schutz vor Wind und Wasser. Diese Schutzanlagen, oft in mehreren Reihen angeordnet, verstärken die Widerstandskraft der Dörfer gegen Überschwemmungen und Erosion. Besonders eindrucksvoll ist dies in Pilsum zu beobachten, wo das Dorf von einem Netz aus Entwässerungsgräben und erhöhten Wegen durchzogen ist. Diese Anlagen wurden ständig gepflegt und erweitert, um den steigenden Anforderungen durch klimatische Veränderungen gerecht zu werden. In vielen Dörfern sind diese Schutzsysteme bis heute in Gebrauch und unterstreichen die enge Verbindung zwischen Mensch und Natur in Ostfriesland.
Warftendörfer in Ostfriesland
Ostfriesland beherbergt zahlreiche Warftendörfer, die eine beeindruckende Vielfalt an historischen und kulturellen Merkmalen aufweisen. Nachfolgend eine Liste der bekanntesten und weniger bekannten Dörfer:
- Rysum: Ein typisches Rundwarftendorf mit einer mittelalterlichen Kirche und einer historischen Orgel.
- Loquard: Bekannt für seine gut erhaltenen Backsteinhäuser und seine Kirchwarft.
- Pilsum: Berühmt für den rot-gelben Leuchtturm und die traditionelle Struktur des Dorfes.
- Manslagt: Ein weiteres Beispiel für die klassische Ringstruktur eines Warftendorfes.
- Campen: Heimat des höchsten Leuchtturms Deutschlands und einer alten Warftanlage.
- Upleward: Mit einer gut erhaltenen Kirchenwarft und malerischen Gassen.
- Freepsum: Eine der niedrigstgelegenen Regionen in Deutschland, trotz der Schutzfunktionen der Warften.
- Greetsiel: Das malerische Fischerdorf Greetsiel weist ebenfalls Warftstrukturen in seinen Ursprüngen auf.
- Pewsum: Verwaltungssitz der Krummhörn mit historischen Gebäuden auf einer Warft.
- Hamswehrum: Kleines Warftendorf mit typisch ostfriesischem Charme.
- Visquard: Bekannt für seine alte Kirche und die zentrale Warftstruktur.
- Schwerinsdorf: Eine interessante Kombination aus traditioneller Warft und moderner Nutzung.
- Tergast: Historisch bedeutsam mit gut erhaltenen Warftgebäuden.
- Twixlum: Ein kleines, aber geschichtsträchtiges Warftendorf nahe Emden.
- Woltzeten: Ein verstecktes Juwel mit ursprünglicher Warftstruktur.
Diese und viele weitere Dörfer bieten einen umfassenden Einblick in die einzigartige Bauweise und Geschichte der ostfriesischen Warften und sind Zeugnisse einer an die Natur angepassten Lebensweise.
Bedeutung für Ostfriesland
Die Warftendörfer sind nicht nur historische Siedlungen, sondern auch ein lebendiges Zeugnis für die Geschichte und Kultur Ostfrieslands. Sie spiegeln den engen Bezug der Menschen zur Landschaft und ihre Fähigkeit wider, mit den Herausforderungen der Natur zu leben.
Anpassung an die Natur (Hochwasserschutz)
Warftendörfer sind ein Paradebeispiel für nachhaltiges Bauen. In Zeiten, in denen Klimawandel und steigender Meeresspiegel die Küstenregionen weltweit bedrohen, bieten die Warften eine historische, aber gleichzeitig moderne Lösung für den Küstenschutz. Diese erhöhten Siedlungen fungieren als natürliche Schutzmechanismen, die Wasserströme ableiten und so die darunterliegenden Marschlandschaften sichern. Sie kombinieren traditionelle Bauweisen mit modernem Wissen, was sie zu einer ökologisch wertvollen Lösung für den Umgang mit extremen Wetterereignissen macht. Besonders in Ostfriesland wird durch den Einsatz von Gräben, Aufforstung und der Erhöhung der Warften der Schutz kontinuierlich verbessert.
Landwirtschaft und Autarkie
Bis ins 20. Jahrhundert waren viele Warftendörfer autark. Die fruchtbare Marschlandschaft um die Warften bot ideale Bedingungen für Ackerbau und Viehzucht. Besonders prägend war die Haltung von Milchkühen und robusten Rinderrassen wie dem Ostfriesischen Rotvieh. Diese Tradition setzt sich bis heute fort, da die Region für hochwertige landwirtschaftliche Produkte bekannt ist. Auch der Anbau von Getreide, wie Roggen und Gerste, sowie die Gewinnung von Heu auf den salztoleranten Gräsern der Marschwiesen trugen zur Selbstversorgung der Dörfer bei. In vielen Orten finden sich noch historische Güllablagersysteme und Scheunen, die an diese autarke Lebensweise erinnern.
Kultur und Tourismus
Heute sind Warftendörfer ein wichtiger Bestandteil des ostfriesischen Tourismus. Orte wie Rysum, bekannt für seine historische Windmühle und eine der ältesten spielbaren Orgeln Europas, sowie Loquard, mit seinen malerischen Gassen und traditionellen Backsteinhäusern, ziehen zahlreiche Besucher an. Geführtouren entlang der Warften bieten Einblicke in die Geschichte und das Alltagsleben dieser Siedlungen. Zudem sind lokale Feste, wie das „Warftenfest“ oder die „Ostfriesische Teekultur“, ein wichtiger Bestandteil des touristischen Angebots. Die Mischung aus historischer Architektur, natürlicher Umgebung und kulturellen Veranstaltungen macht Warftendörfer zu einem einzigartigen Reiseziel.
Wortherkunft von Warft
Der Begriff „Warft“ ist vielschichtig und regional unterschiedlich. Neben „Warft“ sind auch Begriffe wie „Warf“, „Wurt“, „Werft“ und „Wierde“ gebräuchlich. Der Ausdruck „Warft“ stellt eine sekundäre t-Erweiterung des ursprünglichen Wortes „Warf“ dar, das noch heute in Ostfriesland verwendet wird. Etymologisch leitet sich „Warf“ vom Verb „werben“ ab und nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, von „werfen“.
Die niederdeutsche Variante „Wurt“ hat hingegen ihren Ursprung im altsächsischen „wurð“, das so viel wie „Hofstätte“ oder „Boden“ bedeutet. Diese Form fand Eingang in Begriffe wie „Wörde“ und „Wurt“ und zeigt eine sprachliche Verwandtschaft mit dem englischen Suffix „-worth“ (wie in „Kenilworth“).
Nicht verwandt mit „Warft“ ist hingegen das neuhochdeutsche Wort „Werder“ (oberdeutsch „Wörd“, „Wörth“), das vom althochdeutschen „warid“ oder „werid“ abstammt und eine Flussinsel bezeichnet.
In den Niederlanden gibt es ebenfalls verwandte Begriffe wie „terp“ oder „wierde“, die vor allem in den Provinzen Friesland und Groningen verwendet werden. Im Dänischen werden Warften als „værfter“ bezeichnet.
Darüber hinaus zeigt die Begriffsfamilie Verbindungen zu anderen erhöhten Plätzen wie der „Werft“ für den Schiffbau oder dem englischen „wharf“, das Lagerstätten oder Uferbauwerke beschreibt.
Herausforderungen und Zukunft
Die Warftendörfer stehen jedoch auch vor gravierenden Herausforderungen. Der demografische Wandel hat zur Folge, dass viele junge Menschen die Region verlassen, oft aufgrund fehlender beruflicher Perspektiven. Dadurch kommt es nicht nur zu Bevölkerungsschwund, sondern auch zu einem Verlust an traditionellem Wissen über den Bau und die Pflege der Warften.
Der Erhalt der Warften ist darüber hinaus kostenintensiv. Die ständige Erhöhung und Stabilisierung der Warften erfordert große Mengen an Material und den Einsatz moderner Technologien, um die Sicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig stellt der Klimawandel eine wachsende Gefahr dar. Häufigere und stärkere Sturmfluten sowie der steigende Meeresspiegel setzen den Warftendörfern massiv zu. Die Gefahr besteht, dass historische Strukturen irreparabel beschädigt werden und die Dörfer ihren Schutz verlieren.
Auch wirtschaftliche Faktoren spielen eine Rolle. Die Landwirtschaft als eine der Hauptgrundlagen vieler Warftendörfer gerät durch internationale Konkurrenz und klimatische Veränderungen unter Druck, was die finanzielle Lage vieler Gemeinden weiter verschärft.
Projekte in Ostfriesland
Trotz dieser Herausforderungen gibt es zahlreiche innovative Projekte, die den Erhalt der Warftendörfer vorantreiben. Besonders bemerkenswert ist die Initiative zur Entwicklung „schwimmender Warften“ – Plattformen, die flexibel auf Wasserstandsänderungen reagieren und neue Möglichkeiten für sichere Siedlungsräume bieten. Dieses Konzept wird aktuell in Pilotprojekten getestet.
Darüber hinaus gibt es Bemühungen, die kulturelle Bedeutung der Warftendörfer stärker hervorzuheben. Lokale Führungen und Bildungsprogramme informieren über die Geschichte und Bedeutung dieser einzigartigen Siedlungen. Eine verstärkte Einbindung des Tourismus bringt nicht nur dringend benötigte finanzielle Mittel, sondern schafft auch Bewusstsein für die Herausforderungen, vor denen diese Dörfer stehen.
Fazit
Die Warftendörfer in Ostfriesland sind mehr als nur historische Relikte – sie sind ein lebendiger Ausdruck menschlicher Innovationskraft und Widerstandsfähigkeit. Entstanden in einer Zeit, in der der Mensch den Naturgewalten direkt ausgesetzt war, stehen sie heute als Symbol für eine jahrtausendealte Kultur, die sich durch Anpassungsfähigkeit, Nachhaltigkeit und die enge Verbindung zur Natur auszeichnet. Ihre einzigartige Struktur, die sich harmonisch in die Marschlandschaft einfügt, und ihre reiche Geschichte machen sie zu einem unverzichtbaren Teil des ostfriesischen Erbes.
Der Erhalt dieser Siedlungen ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine kulturelle Aufgabe von nationaler Bedeutung. Indem man die Warftendörfer bewahrt, schützt man nicht nur die Küstenregion vor den wachsenden Gefahren durch den Klimawandel, sondern auch das Vermächtnis einer Gemeinschaft, die mit Mut, Einfallsreichtum und harter Arbeit ihre Lebensgrundlage geschaffen hat. Diese beeindruckenden Siedlungen sind ein Zeugnis der menschlichen Fähigkeit, mit den Elementen in Einklang zu leben und dabei etwas Dauerhaftes und Wertvolles zu erschaffen.
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